Jüdische Mitglieder im Spessartbund

 

von Helmut Winter

Unter den Gründungs- und Vorstandsmitgliedern des 19. Jahrhunderts findet man keine jüdischen Mitbürger.
Daten über den Anteil jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in den Städten und Gemeinden des Untermain-Gebietes im 19. und 20. Jahrhundert sind vorhanden. So wohnen 1885 immerhin 493 Israeliten in Aschaffenburg, 1913 sind es schon 670. Sehr stark waren auch die jüdischen Gemeinden in Frankfurt (28.000 Mitglieder um 1930), Offenbach (mehr als 2000 Mitglieder um 1900), Hanau (654 Mitglieder 1902, noch 477 Mitglieder 1933) und Würzburg (um 1900 annähernd 2.500 Mitglieder). In Schöllkrippen zählten 1925 noch 57 und 1933 noch 48 Personen zur jüdischen Gemeinde, in Hörstein waren es 125 (bei einer Einwohnerzahl von 1.467) und in Alzenau 112 Personen (bei 2.135 Einwohnern). Jüdische Gemeinden gab es auch in Großkrotzenburg, Klingenberg und Tauberbischofsheim. In Ortschroniken und Veröffentlichungen zur lokalen Geschichte wird immer wieder betont, dass jüdische Mitbürger in den örtlichen Vereinen mitwirkten. In Bezug auf den Spessartbund und die einzelnen Wandervereine ist die Quellenlage allerdings dürftig. Mündliche und schriftliche Nachfragen führten zu keinem Erfolg. Mitgliederlisten zwischen 1875 und 1935 fehlen und in den gesichteten wenigen Protokollen aus dieser Zeit sind keine Hinweise zu finden.

Eines der ersten jüdischen Mitglieder in einem Wanderverein des bayerischen Untermaingebietes dürfte der am 1. Februar 1857 in Hobbach/Spessart geborene und am 15. Dezember 1937 in Aschaffenburg verstorbene Kaufmann und Herrenkleiderhändler Leopold Sternheimer1 gewesen sein, der 1928 bei den Spessartfreunden Aschaffenburg mit dem goldenen Ehrenabzeichen ausgezeichnet wird.2 In der Mitgliederliste des Vereins ist er 1935 nicht mehr aufgeführt. Er wird wohl wie auch andere jüdische Mitglieder dieses Vereins aufgrund der Forderungen des Reichsverbandes Deutscher Gebirgs- und Wandervereine vom 22. Mai 1933 „Mitglieder, die vaterlandsfeindlich gesinnt sind, hat man aus den Vereinen zu entfernen, ebenso jeden sonstigen, nicht arischen Einfluss“ aus dem Verein gezwungenermaßen ausgetreten oder ausgeschlossen worden sein. Der Bundesvorsitzende des Spessartbundes, Sanitätsrat Hönlein, fordert die Ortsgruppen zum entsprechenden Vollzug der Anordnung, jeden nicht arischen Einfluss auszuschalten, auf.3 Die „Arisierung“ gehört zu einer Reihe von Maßnahmen zu Beginn der NS-Diktatur. Sie hat zum Ziel, die Juden in die gesellschaftliche und kulturelle Isolation zu zwingen. Mit welcher Konsequenz der Vollzug dieser Anordnung 1933/34 im Spessartbund überwacht wurde, lässt sich aus den
archivalischen Quellen nicht erschließen. Von einer Ortsgruppe wird nach vollzogener Gleichschaltung am 26. September 1933 mitgeteilt: „Unser Verein ist frei von Nichtariern und Marxisten“.4 Als sich im Oktober 1933 der Hanauer Wanderclub „Edelweiß“ um Aufnahme in den Spessartbund bemüht, wird ihm die Eingliederung in die bestehende Hanauer Ortsgruppe empfohlen, gleichzeitig dem Vorsitzenden der Hanauer Ortsgruppe aber aufgegeben, „bei den Verhandlungen festzustellen, ob die Mitglieder dieses Klubs auch im Sinne des Rundschreibens des Reichsführers nicht aus Elementen bestehen, die wegen marxistischer oder sonstiger Bestrebungen zum Übertritt nicht in Frage kommen“5.

Das gleiche Schicksal wie Leopold Sternheimer hat die Aschaffenburger Damenschneiderin Gutta Rothschild6, geboren am 11. Januar 1872 in Aschaffenburg, erlitten, die 1920 als erste Frau in den Ausschuss des Vereins der Spessartfreunde gewählt und noch bei der Wahl am 28. Januar 1933 als Ausschussmitglied bestätigt wurde.7 Gutta Rothschild wurde am 9. September 1942 nach Theresienstadt verbracht. Sie verstarb in Minsk (Weißrussland). Vorstandsmitglied und Kassenprüfer (1930) im gleichen Verein war auch der am 27. Januar 1877 in Kronach geborene und am 2. September 1892 nach Aschaffenburg verzogene Kaufmann Benno Bamberger8, der bereits vor 1905 Mitglied bei den Spessartfreunden war, 1931 zum zweiten Mal mit dem Ehrenzeichen ausgezeichnet und wie Gutta Rothschild noch 1933 in den Vereinsausschuss gewählt wurde9. Auch er fehlt in der Mitgliederliste 1935. Laut Aschaffenburger Adressbuch wohnte Benno Bamberger im Dezember 1940 in der Riesengasse 5a. Am 23. April 1942 wurde er nach Izbica (Polen) deportiert. Die jüdische Mitbürgerin Emma Löb10, geboren am 12. April 1891 in Goldbach, erhielt 1928 die Wanderauszeichnung und 1931 zum zweiten Mal das Ehrenabzeichen des Vereins der Spessartfreunde.11 In der Mitgliederliste von 1935 ist sie nicht mehr aufgeführt. Emma Löb wurde wie Benno Bamberger am 23. April 1942 nach Izbica deportiert. Warum der jüdische Kaufmann und Handlungsbevollmächtigte Max Mayer12, geboren am 7. November 1884 in Aschaffenburg, wohnhaft in der Hanauer Straße 22, trotz seiner „nichtarischen“ Abstammung 1935 noch als Mitglied beim Verein der Spessartfreunde geführt wird, ist nirgends festgehalten. Es ist zu vermuten, dass er im 1. Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich gekämpft hat und deshalb in sinngemäßer Anwendung des § 3 Abs. 2 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zunächst Vereinsmitglied bleiben konnte. Max Mayer zog nach 1935 nach München und wurde von dort nach Riga (Lettland) deportiert.
Zumindest Unbehagen über den Umgang mit nichtarischen Mitgliedern äußert der Schriftführer des Spessart-Clubs Würzburg, Hans Dechelmann, in einem Schreiben an den „Bundesvorsitzenden“ Sanitätsrat Hans Hönlein vom 19. Juli 1933. Es ist anzunehmen, dass Hans Dechelmann mit dieser Adressierung an den nicht der NSDAP angehörigen Hönlein, der seit dem 2. Juli 1933 nur noch stellvertretender Bundesvorsitzender ist, eine Kritik an dessen „Abwahl‘“ als Bundesvorsitzender verbindet. Zunächst beklagt sich Dechelmann über den „bitteren Ausklang der diesjährigen Bundesversammlung in Damm“, der ja nach Auseinandersetzungen um die Vorschlagsliste für den Bundesvorstand mit der „Gleichschaltung“ und der Bestimmung des Aschaffenburger NSDAP-Oberbürgermeisters Wohlgemuth als „Führer“ des Spessartbundes endet. Dann heißt es weiter: „Und nun komme ich mit einer Bitte zu Ihnen, die der heutigen Bewegung entspringt. Am 3. September haben wir im Programm eine Wanderung, die unser Clubfreund Lehmann führt. Lehmann, ein äußerst vornehmer und feiner Mensch, gehört seit 1912 dem Spessart-Club an und nimmt an den Freuden und Leiden des Clubs regen Anteil. Leider hat er das Pech, dass er nicht arischer Abstimmung ist. In der letzten Vorstandssitzung wurden Bedenken laut, Lehmann als Führer seiner Wanderung zu lassen. Da wir alle schon seit langen Jahren mit ihm wandern und auch am Stammtisch beisammen sind, so ist der Entschluß für uns eine sehr unangenehme Sache, ihm mitzuteilen die Wanderung nicht zu führen. Ich wurde daher gestern von den Herren Meister, Beckenbach, Cassier Schubert gebeten, Sie zu bitten, daß Sie vielleicht ein allgemein gehaltenes Schreiben (als Bundesvorsitzender) an Herrn Meister als 1. Vorstand senden würden, mit dem Hinweis, daß es ratsam sei, Mitglieder, die nicht arisch sind, zu bitten, heuer keine  Wanderung mehr zu führen.“ Der Briefschreiber erhofft sich von einer solchen Mitteilung, dass dann der Ortsgruppen-Vorsitzende Josef Meister das jüdische Vereinsmitglied Lehmann eher bitten könnte, die Führung einer anderen Person zu übertragen, „ohne dem Spessart-Club zu schaden und Lehmann von der Ortsgruppe aus zu beleidigen“. Hönlein antwortet bereits am 23. Juli 1933 wie folgt: „Es hat schon in verschiedenen Ortsgruppen zu Bedenken und Unstimmigkeiten geführt, daß Mitglieder, die nicht arischer Abkunft sind, nicht von sich aus der nun einmal gegebenen politischen Situation Rechnung tragen und wenigstens vorerst einmal in ihrem eigenen Interesse wie im Interesse der Ortsgruppe etwas mehr in [den] Hintergrund treten. Ich möchte meinen Würzburger Freunden und etwa in Betracht kommenden Herren nur alles wirklich Unnötige ersparen, wenn ich bitte, sich künftig strikte an die in der Julinummer des „Spessart“ zum Abdruck gekommene Entschließung des Reichsverbandes zu halten, wonach in den Ortsgruppen jeder nichtarische Einfluss irgendwelcher Art auszuschalten ist. Jedes irgendwie Indenvordergrundtreten wäre also peinlichst zu vermeiden. Irgendeine Vortragsformel, die nicht wehe tut, wird sich schon finden lassen.“13
Der hier wiedergegebene Schriftwechsel ist einerseits ein Beleg für die Gefügigkeit gegenüber dem neuen Regime und das Verkennen der menschenverachtenden Dimension der gegen jüdische Mitbürger gerichteten Anordnung, andererseits regt sich noch ein Rest von Anstand, wenn es um Einzelschicksale geht.
In der Mitgliederliste des Spessart-Clubs Würzburg aus dem Jahre 1935 ist kein jüdisches Vereinsmitglied mehr aufgeführt.
Neben Aschaffenburg und Würzburg sind bislang nur aus den Ortsgruppen Klingenberg und Schöllkrippen einige spärliche Nachrichten über jüdische Mitglieder überliefert.
In Klingenberg ist der jüdische Weinhändler, Weinbergbesitzer und Küfer Mayer Fried (1847-1914) Gründungs- und Beiratsmitglied des 1903 gegründeten Fremdenverkehrsvereins.14 Dieser zeichnet für den Bau des Aussichtsturmes auf der Germanen-Schanze verantwortlich und tritt 1904 dem Spessartverein Aschaffenburg als Sektion bei.15 Die Familien Fried sind seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Klingenberg registriert. Mayer Fried und seine Söhne Semy und Willy bringen es in Klingenberg zu Wohlstand und Ansehen. Mayer  Fried  wird  sogar in den Stadtmagistrat gewählt. Ob Semy Fried, Autor des 1910 im Rahmen eines vom „Verein der Hochspessart-Freunde Rothenbuch“ abgehaltenen Burgfestes aufgeführten Ritterspiels „Die Brautwerbung“16, Mitglied des Klingenberger Spessartvereins gewesen ist, ließ sich nicht feststellen. Semy Fried kommt im KZ Auschwitz ums Leben. Sein Bruder Willy Fried ist 1927 Vorsitzender des zu den Spessartfreunden Aschaffenburg zählenden Verkehrsvereins. Er schreibt anlässlich des 1927 in Klingenberg abgehaltenen 8. Bundesfestes in der Zeitschrift „Spessart“ einen Beitrag über die Ruine Clingenburg.17 1939, zum 20. Bundesfest in Klingenberg, wird in der Zeitschrift „Mainfranken“, vorher „Spessart“, sein früher entstandener Beitrag über Klingenberg abgedruckt, allerdings ohne den Namen des Autors zu nennen. Willy Fried wurde bereits 1938 in das KZ Dachau verbracht und im November 1941 von Nürnberg aus nach Riga deportiert.18
Im Freigerichter Bund in  Alzenau sind derzeit drei jüdische Mitglieder bekannt: der Fabrikant Aron Rosenthal, geboren am 7. März 1873 in Kleinkrotzenburg, der Textilkaufmann Samuel Hamburger und der Inhaber der israelitischen Schuldienststelle, Vorbeter und mit dem Schächteramt betraute Benzion Wechsler, geboren am 10. März 1874  in Schwabach als Sohn eines Rabbi.19
Aron Rosenthal wird laut Protokollbuch am 22. März 1896 in den Wanderverein aufgenommen. Als Beruf ist „Fabrikant“ angegeben. Wahrscheinlich ist er ein Mitglied der Familie Rosenthal, die seit 1891 in Kleinkrotzenburg eine Zigarrenfabrik betreibt. In der Mitgliederliste des Freigerichter
Bundes aus dem Jahre 1935 ist er nicht aufgeführt. Aron Rosenthal zieht um 1938/39 nach Frankfurt. Von dort wird er am 1. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort stirbt er am 5. Februar 1943.20
Benzion Wechsler kommt am 15. Oktober 1901 an die israelische Schule in Alzenau und engagiert sich sofort in den Alzenauer Vereinen, so beim Turnverein und bei den Wanderern. 1913 tritt er in den Freigerichter Bund ein. Dort ist er viele Jahre Beisitzer und Wanderführer. Er wirbt vor allem für Winterwanderungen.21 Hohes Ansehen genießt er als Dirigent des Gesangvereins Frohsinn und als Redner bei Feierlichkeiten und Vereinsfesten. 1926 wird Benzion Wechsler in einer Feierstunde zu seinem „25jährigen Ortsjubiläum“, an der neben hunderten Festbesuchern aus der Bevölkerung auch die beiden Alzenauer Bürgermeister, Gemeinderäte, der Ortspfarrer und der Bezirksamtmann teilnahmen, geehrt.22 Gedankt wird ihm im gleichen Jahr ausdrücklich für sein Engagement beim 50jährigen Stiftungsfest des Freigerichter Bundes. 1929 hält Wechsler eine Rede zur Einweihung des Kriegerdenkmals. Sein damaliger Aufruf zu Eintracht und Zusammengehörigkeit ist sicher keine Prophezeiung des kommenden Schreckens, aber doch eine warnende Botschaft:
Einer für Alle, Alle für Einen, so soll auch jetzt nach dem Kriege das Volk in Eintracht verkehren, jeden Rassen- und Klassenhaß von sich weisen, die Überzeugung und Religion anderer achten, wie dies unser Nationaldichter Schiller so herrlich in Wilhelm Tell ausspricht: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.23  

1930 ist Benzion Wechsler Mitglied der Markierungskommission. Für die Teilnahme an 6 Wanderungen erhält er damals auch den Ehrenstock des Vereins. Drei Jahre später holt ihn eine andere Wirklichkeit ein. 1933 tritt er unter dem Druck der „Arisierungs“-Richtlinie aus dem Freigerichter Bund aus. Im Wanderplan war er für den 10. Dezember 1933 noch als Wanderführer vorgesehen.24 Unter den vier Personen, die den Verein 1933 verlassen (mussten), ist auch der frühere Reichstagsabgeordnete der Bayerischen Volkspartei Fritz Huth, ein Gegner der
NSDAP, der nach 1945 Landrat in Alzenau wird. Es ist zu vermuten, dass auch Samuel Hamburger 1933 aus dem Verein ausscheiden muss. Auch er ist in Alzenau geschätzt und in Vereinen engagiert. Außerdem ist er Leiter der jüdischen Beerdigungsgesellschaft und Kassierer der israelitischen Gemeinde. 1925 gehört er zu deren  Vorstehern. Sein Textilgeschäft befand sich gegenüber der Gastwirtschaft „Fränkischer Hof“. Samuel Hamburger wird 1926 für langjährige treue Mitgliedschaft geehrt und 1931 für 25jährige Mitgliedschaft im Freigerichter Bund mit der silbernen Spessartnadel ausgezeichnet.25 Er stirbt am 12. März 1935 und wird auf dem jüdischen Friedhof in Hörstein beerdigt.26
Benzion Wechsler wird 1935 wegen einer angeblichen Auseinandersetzung mit einem „Jungvolkpimpfen“ in Schutzhaft genommen.27 Im gleichen Jahr erscheint ein übles Flugblatt, in dem seine Hilfe für jüdische Flüchtlinge mit Worten des Ungeistes und der Niedertracht angeprangert wird: Warum wird das Emigranten-Hotel des Schacher- und Watscheljuden Benzion Wechsler (Löffler) nicht ausgehoben und gesprengt? Wie lange werden hier noch jüdische Flüchtlinge beherbergt?27 In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wird auch das erst 11 Jahre alte Wohnhaus der Familie Wechsler verwüstet und beschädigt. Dieses Anwesen mit Hofraum und Garten muss der vor 1933 über Jahrzehnte in der Bevölkerung geachtete jüdische Lehrer im November 1938 verkaufen. Im Januar 1939 wird unter die Haustür seines von ihm noch kurzfristig bewohnten Hauses ein Zettel mit folgendem Wortlaut gelegt: Wenn ihnen ihr Leben lieb ist, dann legen sie am 19.1.1939 100 RM […] am Holzster hin.28 Falls er die Polizei benachrichtige, koste es sein Leben. Lehrer Wechsler zieht 1939 mit seiner Ehefrau nach Frankfurt, wo er sich – ähnlich wie viele Leidensgenossen – etwas mehr Sicherheit erhofft.  Die Gendarmeriestation Alzenau hält ihn für einen ängstlichen Menschen, der „sich seit den Judenaktionen zur Nachtzeit fast nicht mehr aus dem Hause getraut“.29 In Schreiben an die Regierung von Mainfranken bittet Wechsler um baldige Genehmigung des Kaufvertrags und um Auszahlung des für den Umzug nach Frankfurt (zur „eigenen Sicherheit“) und für die geplante Auswanderung nach Holland dringend benötigten Geldes. Tatsächlich emigriert das Ehepaar Wechsler in die Niederlande. Aber es kann den NS-Verbrechern nicht entkommen. Die Ehefrau Sophie wird  1942 in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert und dort am 26. Oktober 1942 umgebracht. Benzion Wechsler wird am 10. März 1943 ab Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo er am 13. März 1943 getötet wird.30

In Schöllkrippen ist G. Löwensohn, vermutlich als Agent im Perlstickereigewerbe tätig, 1914 als Mitglied nachgewiesen. In diesem Jahr führt er zwei Wanderungen der Ortsgruppe Schöllkrippen.31 In Hörstein, Schöllkrippen, Eschau und Tauberbischofsheim wohnen 1933 noch eine Anzahl  jüdischer  Familien, die  vorher  zum  Teil auch im örtlichen Vereinsleben mitwirkten. Von der Ortsgruppe Tauberbischofsheim existiert keine Mitgliederliste. Die Mitgliederlisten von 1935 aus den drei anderen genannten Gemeinden enthalten keinen jüdischen Namen.

Zweifel bestehen an den im Antrag auf Wiederzulassung des Wandervereins „Spessartfreunde Tauberbischofsheim“ vom 28. März 1946, gerichtet an die amerikanische Militärregierung, gemachten Ausführungen: Rassistische Grundsätze vertrat der Verein niemals; das dürfte allein schon daraus hervorgehen, dass es im hiesigen Orte keinen weiteren Verein gab, der sämtliche jüdische Bewohner als Mitglied zählte, und die bei ihrer Auswanderung nur ungern selbst ausgeschieden sind. Einige waren sogar führende Persönlichkeiten der Vorstandschaft32.

Ob diese Angaben nur der Tatsache geschuldet sind, die Wiederzulassung des Wandervereins zu befördern oder ob sie auf Tatsachen beruhen, konnte nicht geklärt werden. Wenn sie stimmen, wäre das Verhalten der Ortsgruppe Tauberbischofsheim eine rühmenswerte Ausnahme. Denkbar ist, dass eine Reihe jüdischer Einwohner Mitglied im Wanderverein waren und jüdische Mitglieder auch  Vorstandspositionen inne hatten. Dass dann aber im Zuge der „Arisierung“ keine Austritte oder Ausschlüsse von Juden erfolgt sind, ist zumindest unwahrscheinlich.

Insgesamt wird für den Rhein-Main-Raum gelten, dass nur wenige, meist wohl begüterte Juden Mitglied in einem Wanderverein waren.

 

Quellen und Literatur:
Mitgliederlisten des Jahres 1935
Gertrud Berninger, Jüdische Mitbürger, in: Chronik der Stadt Klingenberg, Band II, S. 211-234.
Peter Körner, Biographisches Handbuch der Juden in Stadt und Altkreis Aschaffenburg, 1993.
Edgar Meyer, Alt Alzenau – neu entdeckt, Band 1, Großkrotzenburg 1994.
Carsten Pollnick, Chronik des Vereins der Spessartfreunde, Stammclub Aschaffenburg, Goldbach 1980.
Walter Scharwies, Toleranz und Zusammenleben, aber auch unverständlicher Haß – Jüdische Kultusgemeinden in Alzenau/Wasserlos und Hörstein, in: Alzenauer Stadtbuch, hrsg. von der Stadt Alzenau, Alzenau 2001, S. 259-288.
www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
(Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945)
Archiv des Spessartbundes, Ordner 1945/48..

Anmerkungen:
1     Peter Körner, Biographisches Handbuch der Juden in Stadt und Altkreis Aschaffenburg, S. 219 f.
2     Carsten Pollnick, a.a.O., S. 100.
3     Archiv Spessartbund
4     Archiv Spessartbund
5     Archiv Spessartbund, Akte Ortsgruppe Hanau
6     Peter Körner, a.a.O., S. S. 190 f.
7     Carsten Pollnick, a.a.O., S. 87, 95, 109
8     Peter Körner, a.a.O., S. 56.
9     Carsten Pollnick, a.a.O., S. 107, 109.
10    Peter Körner, a.a.O., S. 146.
11    Carsten Pollnick, a.a.O., S. 107.
12    Peter Körner, a.a.O., S. 160.
13    Archiv Spessartbund, Ordner 1945/48       
14    Gertrud Berninger, Jüdische Mitbürger, in: Chronik der Stadt Klingenberg, Band II, S. 216 ff.
15    100 Jahre Spessartbund Klingenberg, S. 10.
16    Ebenda, S.12.
17     Ebenda, S. 19.
18    Eintrag im Gedenkbuch „Opfer der Verfolgung der  Juden unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“, www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
19    Mitteilung von Walter Scharwies (Protokollbuch des Freigerichter Bundes)
20    Wie Ziff. 18.
21    Wie Ziff. 19.
22    Edgar Meyer, Alt Alzenau – neu entdeckt, Band 1,  Groß-krotzenburg 1994, S. 55.
23    Zitiert nach: Walter Scharwies, Toleranz und Zusammenleben, aber auch unverständlicher Haß, in: Alzenauer Stadtbuch, Alzenau 2001, S. 282.
24    Wie Ziff. 19.
25    Beobachter am Main vom 8. Juli 1931
26    EHRE DEINE ELTERN, Alzenauer Beiträge zur Heimatgeschichte, Band 2, hrsg. von der Stadt Alzenau, November 2004, S. 162 (Nr. 153).
27    Zitiert nach Walter Scharwies, a.a.O., S. 284.
28    Bericht der Gendarmeriestation Alzenau vom 28. Januar 1939 (Staatsarchiv Würzburg, LRA Alzenau 339)
29    Ebenda.
30    Wie Ziff. 18.
31 100 Jahre Ortsgruppe Schöllkrippen des Spessartbundes e.V. (Festschrift und Chronik), S. 37.
32     Schreiben vom 28. März 1946 (Archiv des Spessartbundes, Akte 1945/I48).
Bild 1 (Grabmal der jüdischen Familie Sternheimer) entnommen aus: Oded Zingher, Ihr werdet uns ewig unvergesslich sein. Der Jüdische Altstadtfriedhof in Aschaffenburg, Aschaffenburg 2008. 
Bild 2: Bildarchiv der Stadt Klingenberg
Bild 3: Stadtarchiv Alzenau.
Bild 4: Entnommen aus dem Band „Alt Alzenau – neu entdeckt, Großkrotzenburg 1994, S. 55. 

Für wertvolle Unterstützung bei der Materialsammlung und viele Hinweise danke ich Altbürgermeister Walter Scharwies aus Alzenau, Hans Fischer aus Klingenberg und Oded Zingher aus Aschaffenburg.

 

Holpriges Nachdenken nach  1945


Im Archiv des Spessartbundes befinden sich einige Briefe und Stellungnahmen zur Nazizeit.  Hier einige Auszüge:
„Täglich danke ich Gott, daß ich keinerlei Funktionen, aber auch nicht die geringste, trotz häufiger Aufforderung übernommen habe, bin aber auch froh, daß ich schon so alt bin. Die Umstellung macht mir keinerlei Schwierigkeiten, nur das Schamgefühl tritt jeden Anständigen ins Gesicht, wenn er von den Greueltaten im Radio hört.“
(Privates Schreiben an Dr. Hans Hönlein vom 22. Mai 1945)

„Ich selber stehe schon als Arzt politisch links genug und weiß mich in dieser Hinsicht einig mit dem Großteil meiner Wanderfreunde. Nein, was wir in die Waagschale werfen, das ist unsere bereits 65 Jahre lang im Dienste der Heimat geleistete Arbeit und die daraus resultierende Erfahrung zum Nutzen heimatlicher Belange. Wir haben nur eine Politik gekannt und gefördert und das war die Spessarter. […] Das Reich Hitlers hat zwar unsere oberste Führung usurpiert, im Übrigen aber uns in unseren alten bewährten Bahnen weiter wandern lassen. “
(Undatiertes Schreiben, wohl April 1946, an das Bayer. Kultusministerium)

Wir haben in den Reihen des Spessartbundes niemals Politik getrieben, auch keine braune im sog. Dritten Reich. Wir haben nur einen Ehrgeiz gekannt, unserer Heimat zu dienen.“
(Schreiben an den Oberbürgermeister der Stadt Aschaffenburg vom 22. Juli 1946)

„Der Spessartbund war ein reiner Heimat- und Wanderverband und frei von jeglicher politischer Bindung und Betätigung.“
(Schreiben an das Landratsamt Aschaffenburg vom 26. September 1948)

Grabmal der Eheleute Caroline und Leopold Sternheimer auf dem Aschaffenburger Altstadtfriedhof

Gruppenbild mit Inhaber und Beschäftigten der Weinhandlung und Küferei des Mayer Fried. Rechts neben dem Fass sitzend (vermutlich) der Inhaber Mayer Fried. Links außen stehend dessen Sohn Willy Fried. Dieser übernahm Anfang der 30er Jahre das väterliche Geschäft, war Stadtrat und aktiv in Vereinen tätig. Er verfasste auch Beiträge zur Geschichte Klingenbergs. In das Protokollbuch des Weinbauvereins schrieb er am 11.1.1935 : „Mit diesem Eintrag legt der bisherige Schriftführer des Weinbau-Vereins sein Amt nieder, um einer Umbildung der Vereinsführung nicht im Wege zu stehen. (Foto: Stadt Klingenberg)

Der jüdische Textilkaufmann Samuel Hamburger war in Alzenau ein angesehener Mitbürger. Um 1905 wird er Mitglied im Freigerichter Bund. Das Bild aus dem Jahr 1922 zeigt ihn in der Gruppe von Mitgliedern des Vorstandes, des Aufsichtsrats und der Belegschaft von Edeka in Alzenau. (Mittlere Reihe, 5.v.l.) Foto: Stadtarchiv Alzenau

Benzion Wechsler (1874-1943), jüdischer Lehrer in Alzenau von 1901 bis 1938. Er war als Beirat und Wanderführer im Freigerichter Bund aktiv.

zurück